Hoppla, da ist schon wieder ein ganzes Jahr vergangen und ich habe wieder nicht ein Wort hier geschrieben, Aber weil ich Traditionen mag, weil ich den ESC mag, und weil ich Lust dazu habe, werde ich den heutigen Eurovisions-Fernsehabend wieder damit verbringen, meine unqualifizierten Bemerkungen und meine unmassgebliche Meinung in die uninteressierte Welt herauszuposten… vielleicht liest ja doch mal jemand rein.
Wie üblich habe ich mir extra noch keinen der Songs des heutigen Abends angehört. Ich lasse mich da gerne überraschen. Natürlich kenne ich den deutschen Beitrag, klar, aber man hätte in den letzten Wochen schon deutlich jenseits des Mars leben müssen, um den Song nicht dauernd im Radio an- oder ausgespielt zu hören. Auch wenn ich ‘Taken By A Stranger’ anfangs überhaupt nicht mochte, muss ich mittlerweile gestehen, dass das Lied ein gewisses Ohrwurmpotential hat. Ich ertappe sowohl mich als auch die TFDW© immer mal wieder dabei, dass wir die Melodie vor uns hin summen.
Aber: ich finde es grundsätzlich total daneben, dass Lena in diesem Jahr noch einmal antritt. Als Stefan Raab diese blöde Idee schon direkt nach dem erfolg vom letzten Jahr ins Spiel brachte, hatte ich gehofft, dass ihn die anderen Verantwortlichen bei der ARD schon wieder von der Schnapsidee abbringen würden. Aber nein, er zieht das durch. Und das ist, in meinem Augen, ein echter Raabismus: Selbstüberschätzung, Unbelehrbarkeit und der feste Glaube daran, er selbst wäre der letzte Mensch im europäischen Fernsehen, der etwas von Unterhaltung versteht.
Ich behaupte, Lena hat in diesem Jahr keine Chance. Selbst wenn ihre Performance beeindruckend und der Song überragend wäre, gehe ich einfach nicht davon aus, dass die Zuschauer sie ein zweites Mal wählen würden. Aus Prinzip schon nicht. ICH würde es nicht tun. Ich würde einen solchen Versuch eines Künstlers aus jedem anderen Teilnehmerland ebenso als überheblich und arrogant abstrafen und garantiert nicht belohnen.
Ich frage mich wirklich, warum das sein mußte. Das Auswahlverfahren im letzten Jahr fand ich prima, unterhaltsam und letztlich ja auch noch überaus erfolgreich – warum konnte man es diesmal nicht erneut so machen? Vielleicht – ich behaupte sogar: wahrscheinlich! – hätte man einen neuen echten Siegertypen gefunden, männlich oder weiblich, und man hätte wieder einen tollen Song für sie oder ihn gefunden, und man hätte einen frischen Künstler ins Rennen geschickt, der – wer weiß? – vielleicht sogar den Titel hätte verteidigen können.
Naja… hätte und können und wenn und wäre – es nützt ja alles nichts. Wir müssen jetzt das nehmen, was wir haben, und hoffen, dass Lena das beste daraus macht. Letztendlich wird es mir den Spaß an der Veranstaltung an sich nicht verderben, und ich bin auf den Ausgang des Eurovision Song Contest ebenso gespannt wie die Jahre vorher.
So denn – lasset die Spiele beginnen! Hier ist das Line-Up des Abends; ab 21 Uhr geht’s dann los! Bis später!
…
Wow, das geht ja schon mal gut los. Anke Engelke, Judith Rakers und Stefan Raab vertreten Lena und rocken die Bühne. Ein sympathischer, fröhlicher und optisch beindruckender Start der Show. Das gefällt.
01. Finnland
Paradise Oskar – “Da Da Dam”
Das der schon alleine so lange aufbleiben? Ein bißchen aufgeregt scheint er zu sein, ein wenig zittert die Stimme. Aber dafür lächelt er nett, und das Videobild ist tatsächlich so beeindruckend wie man schon vom Halbfinale hörte. Schön ist ja, dass der Refrain absolut international ist – Da Da Dam Dadadadadadam kriegt jeder hin.
02. Bosnien-Herzegowina
Dino Merlin – “Love In Rewind”
Was ist das denn? Der bosnische Reinhard May zusammen mit den Gebrüdern Blattschuss übt für’s Jodeldiplom? Ich weiß ja, das es dem Land nach dem fürchterlichen Bürgerkrieg noch nicht wieder richtig gut geht, aber dass es dort so schlimm steht…
03. Dänemark
A Friend In London – “New Tomorrow”
Na, da will ich mal hoffen, dass der Freund aus London für die Jungs anruft – ich würde es wohl nicht tun. Optisch ein bißchen Eighties, kann ich mit dem Song so gar nichts anfangen, und die aufrüttelnde und mitreißende Botschaft des Songs geht in Kinderreimschemen unter.
04. Litauen
Evelina Sašenko – “C’est Ma Vie”
Lithauen singt französisch? Nein, die Strophe ist englisch, aber der Refrain ist französisch. Wollte man da einer möglichst breiten Masse gefallen? Dann sollte der Song nicht wie aus einem schlechten Andrew Lloyd-Webber Musical klingen. Naja, wenigstens würden die Gesten dazu passen.
05. Ungarn
Kati Wolf – “What About My Dreams”
Vielleicht hätten sie ein bißchen Stoff von den Armen unten an das Kleid anfügen sollen, dann könnte sich die Arme wenigstens bewegen, ohne die Jugendfreigabe der Sendung auf’s Spiel zu setzen. Die Tänzer haben sie aus Tron geklaut, oder? Stimmlich nicht überzeugend, und der Sound ist aus den Siebzigern.
06. Irland
Jedward – “Lipstick”
Meine Güte, was ist das denn? Die Söhne der Pet Shop Boys haben einen Stromschlag bekommen? Ich finde den Sound ziemlich flach, die Bühnenshow dafür umso überzogen. Und das soll einer der Favoriten sein? Och nöööööö.
07. Schweden
Eric Saade – “Popular”
Oh, der ist ja süß. Geiles Intro, und dann kommt irgendwie nix mehr. Ich finde das nicht eingängig, und die Stimme klingt mir ziemlich gepresst. Dafür kann er “seine Choreo total gut performen”, wie es bei diesen Castingshows jetzt wieder heißen würde. Dort hätte er bestimmt auch durchaus seine Chancen – die Ansprüche sind dort ja total gesunken.
08. Estland
Getter Jaani – “Rockefeller Street”
Alice im Wunderland führt gleich mal ‘nen Zaubertrick vor. Soll das von der Gesangsleistung ablenken? Klingt ein bißchen wie eine Spieldose, aber wenigstens sieht es so aus, als hätte sie echt Spaß dort auf der Bühne. Insgesamt aber eher Spätneunziger-Pop, plätschert dahin, ohne hängen zu bleiben.
09. Griechenland
Loukas Yiorkas feat. Stereo Mike – “Watch My Dance”
Ah, man warnt uns vor einer interessanten Mischung aus neu und alt. Der Rap-Teil klingt ein bißchen unmotiviert, und nun kommt der griechische David Beckham und schmettert einen… Die Breakdancer sind ziemlich genial, aber der Videohintergrund mit der Optik von Griechische-Spezialitäten-Restaurant-Speisekarten ist eher geschmacksverirrt.
10. Russland
Alexey Vorobyov – “Get You”
Oh my goodness… Er ist schön, er weiß das auch. Ein lukrativer Werbevertrag mit einer Zahnpastamarke scheint sicher. Er versucht das Publikum anzufeuern, er gibt tänzerisch alles. Aber das bleibt alles so nichtssagend, das klingt wie billiger Instant-Kaffee – kein Aroma, keine Wirkung, schnell vergessen.
11. Frankreich
Amaury Vassili – “Sognu”
Ja, doch, netter Versuch, Frankreich. Der einsame Held steht vor der Kulisse der Götterdämmerung und schmettert eine Opernarie auf Korsisch. Ich frage mich nur, ob sowas Hitpotential hat. Sollte eine ESC-Sieger nicht Hitpotential haben?
12. Italien
Raphael Gualazzi – “Madness Of Love”
Geht es nur mir so, oder zeigen sich durch die Live-Auftritte und eine sehr gute, klare Tontechnik in Düsseldorf dort heute die Unzulänglichkeiten der Künstler besonders schonungslos? Ich finde, der haut ganz schön daneben zum Teil, und jetzt sagt mir nicht, dass das alles Jazz ist und so gewollt.
- Zwischendurch: ich finde die Bühnentechnik und die Lichtausstattung in Düsseldorf total beeindruckend und wunderschön.Und das klopfende Herz als wiederkehrendes Element im Zusammenhang mit dem Slogan “Feel Your Heart Beat”.
13. Schweiz
Anna Rossinelli – “In Love For A While”
Bilder aus den Sechzigern, ein bißchen psychedelisch vielleicht, aber endlich mal ein Song, den ich sehr eingänglich finde. Vorgetragen von einer attraktiven jungen Dame mit einer tollen Stimme. Mein erster Favorit, sage ich jetzt mal.
14. Vereinigtes Königreich
Blue – “I Can”
Blue? Waren das nicht die, die den Weihnachtshit-Wettbewerb gegen Billy Mack verloren haben? Als sie noch jung waren, gut aussahen und vor allem singen und tanzen konnten? Jetzt sind sie ihre eigenen Background-Tänzer – dabei haben ihnen viel eher ein paar vernünftige Backroundsänger gefehlt, die vielleicht stimmlich noch was rausgerissen hätten. Da rettet auch kein bekannter Name. Ehrlich, England – vielleicht solltet Ihr die nächsten Jahre einfach gleich zu Hause bleiben, das wäre weniger peinlich.
15. Moldau
Zdob si Zdub – “So Lucky”
Die Moldau-Zwerge mit Krawall-PopRapRockChaos. Die armen Kinder, die jetzt ohne Schultüten den ersten Schultag überstehen müssen. Das ist schräg und bleibt deshalb sogar im Gedächtnis. Nicht dass ich das jetzt wirklich gut fand, aber zumindest hat es sich aus der Masse wohltuend abgehoben. Andererseits bin ich auch froh, dass es wieder vorbei ist.
16. Deutschland
Lena – “Taken By A Stranger”
Wow. Ein absolut perfekter Auftritt von Lena, und wider Erwarten und obwohl ich es eigentlich nicht will fand ich das beeindruckend gut. Ich bin jetzt wirklich gespannt, was der Rest von Europa davon hält…
17. Rumänien
Hotel FM – “Change”
Noch ein Sunnyboy, aber irgendwie ein netter. Ich finde das Lächeln sehr entwaffnend. Allerdings stammt die Musik wohl wieder aus dem großen Kübel, in dem die Musikindustrie seit etwa 60 Jahren die Zutaten zu Standard-Retorten-Songs vor sich hin brodeln läßt und wo sich jeder bei Bedarf ein vermeintliches erfolgsrezept für einen Hit herausziehen kann. Manche greifen aber eben – wie knapp auch immer – daneben.
18. Österreich
Nadine Beiler – “The Secret Is Love”
Ah, die uneheliche österreichische Tochter von Mireille Mathieu singt eine weitere Musikal-Ballade. Und das klingt gar nicht mal schlecht. Vor allem die Stimme ist voluminös, kräftig und qualitativ hochwertig. Net schlecht, Austria!
19. Aserbaidschan
Ell / Nikki – “Running Scared”
Aserbaidschan. Sie haben nicht viel dort, aber sie haben Musikgeschmack und gute Künstler, die – es fällt mir immer schwer nachzuvollziehen, aber es ist tatsächlich so – Mainstream-Europa-tauglich sind. Ich finde den Song ziemlich gut, ich finde die Künstler ziemlich gut – wieder Top 10, würde ich sagen.
20. Slowenien
Maja Keuc – “No One”
Ah, da versucht es jemand mit einer sehr eigenwilligen Aussprache der englischen Sprache. Das kommt mir irgendwie bekannt vor… Genauso wie die Melodie des Songs – haben wir den heute schon mal gehört? Ich ahne, dass ich mich hier wiederhole, aber – das ist immer wieder ein furchbarer Einheitsbrei, oder?
21. Island
Sjonni’s Friends – “Coming Home”
Tragische Entstehungsgeschichte – wenn das in allen abstimmenden Ländern von den Kommentatoren and die Zuschauer herangetragen wird, ist das bestimmt ein Bonus. Ansonsten schon ein cooler Auftritt der Ragtime-Band aus Island. Kann man machen – ein Song zum mitsingen, ein Refrain, den man sich merken kann.
22. Spanien
Lucía Pérez – “Que Me Quiten Lo Bailao”
Hey, die ist süß. Fröhlich, schmissig, frisch. Okay, der Text ist vielleicht ein wenig schwer mitzusingen, aber wir beschränken uns dann auch wieder auf das Winken und auf das ‘ohohohohoooo’, dann geht das schon. Klingt nach Sommer, finde ich.
23. Ukraine
Mika Newton – “Angel”
Peter Urban warnt uns schon vor, und ich sehe das ähnlich – am eindrucksvollsten ist die Sandmalerin. Und am meisten beschäftigt mich die Frage, ob die Federn der Sängerin echt sind, angeklebt oder Bestandteil des Kleides. Sieht ein bißchen aus wie ein gerupftes Huhn, und das passt zum Gesamteindruck.
24. Serbien
Nina – “Caroban”
Ich hatte Schwierigkeiten, die stark geschminkte Sängerin vor dem psychedelischen Farbenwirrwarr im Hintergrund auszumachen. Und gehört habe ich sie auch nicht wirklich; das ist zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus gegangen, ohne auf dem Weg eine Synapse zu berühren.
25. Georgien
Eldrine – “One More Day”
Schönes Kleid. (Ich muss ja auch mal was nettes sagen.) Die Aufmachung sieht nach hartem Rock aus, eine der Gitarren klingt ein klein bißchen so, aber letztlich haben sie sich doch nicht richtig getraut. Und das ist dann auch der Gesamteindruck, der bleibt: netter Versuch, leider gescheitert.
Sodele, das war’s. Jetzt freue ich mich darauf zu entdecken, was die ARD für die Pause vorbereitet hat und wie man die geniale Idee des Eurodance vom letzten Jahr vielleicht toppen will. Meine Tipps für den Ausgang des ESC? Ich sehe die Schweiz ziemlich weit vorne, Aserbeidschan hat mir gefallen, und Spanien. Lena hat mich total positiv überrascht und vom Hocker gehauen, und vielleicht kann sie doch einen der vorderen Plätze erreichen- gewinnen wird sie nicht.
Jan Delay als deutsche Antwort auf den Eurodance… naja. Ich mag ihn, klar, aber ob der Rest von Europa und den angeschlossenen Eurovisionsgebieten (sogar Australien ist heute dabei!) so viel damit anfangen kann? Egal, die Bühne, die Videowand, die Lichttechnik kommen nochmal gut zur Geltung, und dem Künstler scheint es ebenso Spaß zu machen wie dem Publikum.
Das scheint aber heute eine bunte Mischung zu werden. Die Punkte werden lustig verteilt – das finde ich sehr schön. Aber ausser mit Aserbeidschan liege ich ja bisher ziemlich daneben… Puh, das dauert aber doch wieder ziemlich lange…
Aserbeidschan. Die fassen es bestimmt auch nicht. Viele werden wahrscheinlich erst einmal nachsehen müssen, wo das überhaupt liegt. Ich gönne es ihnen von Herzen und bin schon sehr gespannt auf das nächste Jahr. Wermutstropfen für mich ist, dass die Schweiz tatsächlich auf dem letzten Platz gelandet ist; das haben sie nicht verdient.
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