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Ich hab’ da eine Theorie…

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Pudding-Romanze

31. December 2012 von -buck

Am Anfang habe ich Karin übersehen. Klein, zierlich, mit schulterlangem blondem Haar. Eher zurückhaltend, immer im Hintergrund. Karin hat mich entdeckt. Sie hat wie zufällig nach der Bedeutung von Vokabeln gefragt, quasi im Vorbeigehen. Wollte die Mathe-Hausaufgaben mal schnell vergleichen oder bat mich um die Bio-Arbeitsbögen.

Aus flüchtigen Begegnungen im Klassenraum wurden schnell längere Gespräche, und es dauerte gar nicht lange da unterhielten wir uns über alles Mögliche. Wir trafen uns meist schon in den Fahrradständern vor der Schule, wenn wir unsere Räder abstellten. Eines Morgens, ich hatte das Gefühl, spät dran zu sein, strampelte ich unwillkürlich schneller auf meinem Rad. Als ich bei den Fahrradständern ankam, suchte mein Blick ihr Rad. Es stand nicht an seinem Stammplatz. Auch in der Nähe konnte ich es nicht entdecken. Ich musste unwillkürlich lächeln – da hatte ich es wohl doch geschafft, die Verspätung aufzuholen, und war früher angekommen als Karin. Ich hatte keine Eile damit, mein Rad anzuschließen, und warf immer wieder Blicke zur Einfahrt, wo sie nun jeden Moment auftauchen musste. Irgendwann war das Rad dann doch abgeschlossen, die Tasche vom Gepäckträger genommen. Ich blieb unschlüssig stehen, starrte Richtung Einfahrt. Das erste Klingeln der Schulglocke nahm ich nur am Rande wahr. Ich schlenderte übertrieben langsam in Richtung Einfahrt. Eigentlich war schon das verboten und nah am Rande des “Unerlaubten Verlassens des Schulgeländes”, was mit einem Tadel geahndet werden konnte, aber das war egal. Ich ging bis an die Grenze. Blickte die Straße hinunter, in die Richtung aus der sie kommen musste. MUSSTE. Es klingelte zum zweiten Mal. Ich drehte mich um, machte einige zögerliche Schritte Richtung des Klassenzimmers, in dem jeden Moment der Unterricht beginnen würde. Aber ich konnte doch jetzt nicht an unregelmäßige Verben im Englischunterricht denken.

Ich fuhr wieder herum, starrte wieder in die Richtung aus der Karin kommen würde. Bestimmt kommen würde. Und tatsächlich – war sie das nicht? Ja, Karin kam die Straße hochgeradelt, hektisch, schlingernd. Sie bog auf die Auffahrt ein, ich sprintete neben ihr her zum Fahrradständer. “Mir ist die Kette abgelaufen!” rief sie mir zu und zeigte mir ihre verschmierten Hände. Ich lachte, als ich ihr half, das Fahrrad in den Ständer zu bugsieren, sie riss die Tasche aus dem Korb und schloß das Fahrrad ab. “Und ich habe Dir geholfen!” rief ich lachend und schmierte mir ebenfalls reichlich Kettenfett auf die Hände. Wir rannten nebeneinander zum Schulgebäude, die Treppen hoch und den Korridor herunter zum Klassenzimmer. Als wir ungestüm die Tür aufrissen, fuhr die Lehrerin herum und starrte uns an. “Und wo bitte kommt ihr jetzt her?” – “Meine Kette war abgelaufen!” entgegnete Karin, und ich fügte wie abgesprochen das “Ich hab’ ihr geholfen!” hinzu, während wir unsere verschmierten Hände als ultimativem Beweis in die Luft streckten. “Dann geht gefälligst erstmal und wascht Euch”, schallte es uns entgegen, “ihr macht ja alles dreckig!”

Wir ließen unsere Taschen fallen und wandten uns Richtung Toiletten. Wir hatten es jetzt nicht mehr eilig. Grinsend spazierten wir den Gang hinunter und plauderten, so wie wir es an jedem anderen Morgen auch getan hätten. Als wir bei den Toiletten ankamen, blickte Karin sich um, grinste verschmitzt und folgte mir dann einfach in die Jungen-Toilette, wo wir uns ungestört nebeneinander gründlich die Hände reinigten, bevor wir dann doch etwas beschleunigten Schrittes in den Klassenraum zurückkehrten. Es fiel mir trotzdem schwer, dem Unterricht zu folgen. Ich lächelte vor mich hin. Sie war doch noch gekommen. Ich wäre sonst wahrscheinlich den ganzen Vormittag an der Einfahrt stehen geblieben.

Nach ein paar Wochen, der Herbst neigte sich bereits dem Ende zu, stand Karin eines Nachmittags vor der Tür. Sie wolle mich besuchen, verkündete sie ganz ohne Einleitung, und mal sehen wie ich so wohne. Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte war sie an mir vorbei getreten. “Oben?”, fragte sie. Als ich nickte ging sie die Treppe hoch als hätte sie nie etwas anderes getan und trat durch die offene Tür zielstrebig in mein Zimmer.

Als ich selbst endlich den Weg nach oben fand sass Karin auf meiner Schlafcouch und sah mich erwartungsvoll an. Wir redeten, sie interessierte sich für meine Schallplatten, für meine Bücher. Wir hörten Musik, ich zeigte ihr meine Lieblingsbücher, sie lieh sich ‘Die Brautprinzessin’ aus. Dann stand sie auf, sagte sie müsse nun nach Hause und ging. Als ich am nächsten Tag in der Schule fragte “Sehen wir uns heute nachmittag?” lächelte sie, drückte ganz kurz meine Hand und sagte “Natürlich!”.

Sie kam wieder zu mir. Wir haben weitergemacht wie am Tag vorher – reden, Bücher, Platten hören. Sie kam beinahe jeden Tag. Als es draussen kalt wurde, begannen wir Tee zu trinken, und an meinem Geburtstag im Dezember küsste sie mich zum ersten Mal. Küssen und kuscheln nahm dann natürlich einen guten Teil der gemeinsam verbrachten Zeit ein, aber während Musik und Literatur ein wenig in den Hintergrund gerieten, hielten wir doch an einem Ritual fest: Wir aßen täglich gemeinsam Pudding.

Da er zum Teil mit gefährlichen Chemikalien hantieren musste, brachte mein Vater zu jener Zeit jeden Abend 2 l Vollmilch mit nach Hause, zum Entgiften des Körpers. Eine gute und wohlschmeckende Methode, dieser Milchmenge Herr zu werden, war es, sie in Pudding zu verwandeln. Wir hatten damals eine große Glasschüssel, die geformt war wie eine Apfelhälfte. In dieser Schüssel bereiteten wir allabendlich 1 l Milch mit zwei Paketen Instant-Pudding (ohne Kochen) zu, wechselweise in den Geschmacksrichtungen Vanille, Himbeer oder Karamell. Wir trugen die Schüssel dann in mein Zimmer, setzten uns, die Schüssel in der Mitte, gegenüber auf den Fußboden und aßen gemeinsam unseren Pudding. Natürlich begannen wir damit, den Löffel am Rand anzusetzen und rundherum einen Graben zu ziehen, der möglichst exakt der Form der Schüssel folgte. Manchmal fütterten wir uns gegenseitig. Manchmal machten wir einen Wettbewerb daraus, wer den Pudding schneller in sich hineinschaufeln konnte. Wir haben uns sogar ein- oder zweimal ein ganz klein wenig vorsichtig gegenseitig mit Pudding beschmiert.

apfelschale02

Exakt so eine Schale wie diese hier!

Selbstverständlich waren wir manchmal auch zusammen unterwegs. Wir gingen rodeln, spazieren, Schlittschuh laufen. Als der Schnee schmolz und man das erste Mal das Gefühl hatte, den Frühling spüren zu können, fuhren wir lachend mit unseren Fahrrädern durch die Marsch. An den ersten wirklich warmen Sonnentagen im April lagen wir gemeinsam im Gras und beobachteten Kiebitze, die nur für uns die tollsten Flugmanöver demonstrierten. Aber immer stellten wir sicher, dass am Abend der Pudding auf uns wartete. Und jeden Abend aßen wir ihn gemeinsam aus der Apfelschüssel, bevor Karin dann wieder nach Hause ging.

Ich habe die Zeit sehr genossen, und vielleicht auch deshalb, weil es für mich sehr bequem war, habe ich Karin in all diesen Monaten nie gefragt, warum wir uns nicht einmal bei ihr treffen könnten. Für mich war alles in Ordnung wie es war, und so ist mir diese Frage nie in den Sinn gekommen. Aus unseren Gesprächen wusste ich, dass Karin ihr Elternhaus als sehr streng empfand, und wahrscheinlich war ich auch nicht sonderlich scharf darauf, solch strengen Eltern zu begegnen.

An einem Freitagnachmittag im Mai, bei herrlich warmen Frühsommerwetter, hatte ich den Nachmittag alleine über meinen Hausaufgaben und im Garten verbracht, da Karin mir bereits in der Schule verkündet hatte, dass sie am Nachmittag beschäftigt wäre. Sie hatte aber auch gesagt, dass sie später noch vorbeikommen und mit mir Pudding essen wolle.

Schon als ich ihr die Tür öffnete, hatte ich ein seltsames Gefühl. Sie blickte recht finster drein, drückte sich an mir vorbei und stapfte direkt nach oben in Richtung meines Zimmers. „Warte, ich hole noch den Pudding!“ rief ich ihr hinterher und eilte kurz darauf mit unserer Schüssel und zwei Löffeln die Treppe hoch. Karin stand, den Rücken zu mir gewandt, am Fenster und blickte hinaus. Als ich die Zimmertür hinter mir schloss, drehte sie sich um und schaute mich lange an, mit versteinerten Gesicht. „Was ist los?“, fragte ich sie.

„Ach du verstehst auch überhaupt nichts!“, schrie sie mich an. Sie riss mir die Puddingschale aus den Händen und warf sie zwischen uns zu Boden, wo sie mit einem lauten Knall zerbrach und der Pudding in alle Richtungen davon spritzte. Dann sprang sie auf mich zu und warf mich mit dem Rücken gegen die Tür des Kleiderschrankes, vor dem ich stand. Der Knauf der Schranktür bohrte sich schmerzhaft in meinen Rücken und hinterließ ein Hämatom, dass mich noch wochenlang quälen sollte. Karin schlang ihre Arme um meinen Hals, riss meinen Kopf zu sich herunter und küsste mich ungestüm.

Ich war völlig perplex und rührte mich nicht. Als sie von mir abließ, sah ich die Tränen in ihren Augen. Ohne ein weiteres Wort stürmte sie aus dem Zimmer, die Treppe herunter, rief meiner Mutter kurz ein “Auf Nimmerwiedersehen!” zu und schmiss die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss. Als ich endlich die Treppe hinunter geeilt war und die Tür wieder aufriss, sah ich sie eilig auf dem Fahrrad davonfahren.

Ich wollte sofort hinterher stürzen, aber meine Mutter hielt mich zurück. Was denn passiert wäre, fragte sie, und ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Meine Mutter überredete mich, bis zum nächsten Tag zu warten, um Karin die Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen. Sie war überzeugt, dass ich irgend etwas sehr Dummes getan haben musste, um Karin derart aufzuregen, und empfahl mir, noch einmal genau nachzudenken, was ich ihr nicht erzählt hätte und was wohl der Auslöser für diesen Ausbruch gewesen sein mochte.

Am nächsten Tag schnappte ich mir sofort nach dem hastig heruntergeschlungenen Frühstück mein Rad und fuhr zu Karins Elternhaus. Ich stand vor dem geschlossenen Gartentor, vor der akkurat geschnittenen Ligusterhecke, und starrte auf das eckige rote Backsteingebäude. Der Vorgarten war perfekt gepflegt, der Gehweg zum Haus zeigte kein Fitzel Unkraut. Aber die Fenster starrten leer auf die Straße. Keine Blume auf den Fensterbänken, keine Gardinen, überhaupt kein Fensterschmuck.

Ich ließ mein Fahrrad auf dem Bürgersteig liegen, öffnete zögernd das Gartentor, dass auf gut geölten Scharnieren leicht und lautlos aufschwang. Zögernd näherte ich mich dem Haus, als mich von der Seite eine Stimme anrief. “Wen suchst du denn, Junge? Wolltest du dich noch von Karin verabschieden? Die ist schon um vier Uhr mit ihrer Familie abgefahren!” – “Abgefahren?” Ich verstand nicht. Die Frau, die Nachbarin klärte mich dann auf: Karins Vater war Soldat, Hauptmann der Luftwaffe, das wußte ich. Er war versetzt worden, nach irgendwo in Süddeutschland. Die Familie hatte in der vergangenen Woche den Umzugswagen gepackt und war in aller Frühe aufgebrochen.

Ich erfuhr in den nächsten Tagen, dass niemand wirklich etwas gewusst hat. Die Familie hatte nicht viel Kontakt zu den Nachbarn, war erst zwei Jahre zuvor in dem Haus eingezogen. Der Vater ging morgens früh aus dem Haus und kehrte oft erst spät abends zurück. Die Mutter hielt Haus und Garten makellos in Ordnung. Karin, das einzige Kind der Familie, galt als freundlich aber schüchtern. Sie grüßte, hat aber niemandem in die Augen gesehen. Karin hatte nicht viele Freunde. Melanie, die einzige wirkliche Freundin von Bedeutung, erzählte mir, dass sie von Karin einen langen Abschiedsbrief bekommen hätte, diesen aber auch erst an jenem Sonnabend Morgen im Briefkasten gefunden hätte. Natürlich wusste die Schule Bescheid. Die Eltern hatten aber darum gebeten, in der Klasse keine Abschiedszeremonie zu veranstalten, da Karin so etwas in vorherigen Schulen nur belastet hätte.

Ich habe nie versucht, Karin wiederzufinden. Zuerst war ich verletzt, dann trotzig und am Ende – ich entschuldige mich heute mit meiner Jugend – hat mich der Alltag vergessen lassen. Jahre später, ich war zu einem Polterabend eingeladen, drückte mir meine Mutter die kleinen Apfelform-Glasschälchen zum zerschmeissen in die Hand. Ich habe lange dagestanden und die Schüsseln in der Hand betrachtet. Dann habe ich sie eine nach der anderen auf den Boden geworfen und mich lächelnd an jenen letzten wilden und ungestümen Kuss erinnert.

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Geschrieben in Me, myself & I | 3 Kommentare

3 Kommentare zu “Pudding-Romanze”

  1. am 31 Dec 2012 um 01:051Tilda

    NachtBuck.

  2. am 31 Dec 2012 um 01:082Tilda

    Ich hab auch eine ähnliche Geschichte. Schreibe ich dir morgen.

  3. am 31 Dec 2012 um 02:243-buck

    Schlaf gut, Tilda. Ich freue mich auf die Geschichte!

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